Der deutsche Mittelstand ist das Herzstück unserer Wirtschaft. Familienunternehmen, Hidden Champions und spezialisierte Dienstleister zeigen jeden Tag, wie Innovationskraft und Unternehmertum in einem herausfordernden Marktumfeld bestehen können. Doch hinter dieser Erfolgsgeschichte verbirgt sich eine unsichtbare Gefahr: die sogenannte Addition Sickness. Der unaufhaltsame Drang, Probleme durch Hinzufügen zu lösen, führt zu immer mehr Prozessen, Regeln, Meetings und Tools. Das Ergebnis? Überlastung, Ineffizienz und ein Verlust der Agilität.
In einer sich schnell verändernden Welt müssen Mittelständler ihre Strukturen überdenken. Die Lösung: Subtraktionsdenken. Doch was bedeutet das, und wie kann es praktisch angewendet werden?
Addition Sickness: Ein Teufelskreis für den Mittelstand
Die Addition Sickness beschreibt die menschliche Neigung, Herausforderungen durch das Hinzufügen neuer Maßnahmen, Prozesse oder Strukturen zu begegnen. Dieses Phänomen ist in Unternehmen besonders ausgeprägt, weil Hinzufügen oft als Aktionismus wahrgenommen wird – ein sichtbares Zeichen, dass etwas getan wird. Doch dieser Ansatz hat seine Tücken.
Ein Beispiel: Ein mittelständischer Maschinenbauer führte eine neue Software für das Projektmanagement ein, um Abläufe zu verbessern. Was als Lösung gedacht war, führte zu Verwirrung: Die Mitarbeiter mussten nun zwischen mehreren Plattformen wechseln, die Datenpflege verdoppelte sich, und die Fehlerquote stieg. Die eigentlichen Probleme – unklare Verantwortlichkeiten und redundante Prozesse – wurden nicht gelöst.
Warum passiert das?
Studien zeigen, dass Menschen instinktiv nach Ergänzungen suchen, wenn sie Probleme lösen. Ob beim Schreiben, beim Kochen oder beim Lösen von Designaufgaben – Subtraktion wird oft übersehen. In einem Experiment sollten Teilnehmer ein LEGO-Modell stabilisieren. Die effizienteste Lösung war das Entfernen eines Bausteins, doch die Mehrheit fügte zusätzliche Steine hinzu – trotz zusätzlicher Kosten.
Dieses psychologische Muster, auch „Addition Bias“ genannt, ist tief in uns verankert. In Unternehmen wird es noch verstärkt durch kulturelle und strukturelle Faktoren:
- Aktionismus: Hinzufügen wird als proaktiv angesehen, während Weglassen oft als Untätigkeit interpretiert wird.
- Besitzstandswahrung: Regeln, Prozesse oder Tools, die einmal eingeführt wurden, werden selten infrage gestellt.
- Komplexitätsblindheit: Führungskräfte unterschätzen oft, wie stark zusätzliche Maßnahmen die Arbeitslast erhöhen.
Die Lösung: Subtraktionsdenken
Subtraktionsdenken fordert Führungskräfte und Organisationen auf, aktiv nach Möglichkeiten zu suchen, Komplexität zu reduzieren. Es geht darum, innezuhalten und zu fragen: „Was können wir weglassen, um effizienter zu werden?“ Dieses Umdenken kann auf allen Ebenen eines Unternehmens angewendet werden – von der Strategie bis hin zu alltäglichen Prozessen.
Praktische Ansätze für Subtraktionsdenken
1. Hinterfragen Sie bestehende Strukturen:
Beginnen Sie mit einer ehrlichen Analyse. Welche Meetings, Tools oder Regeln sind wirklich notwendig? Oft entstehen Prozesse aus einer temporären Notwendigkeit, bleiben aber bestehen, obwohl sie keinen Mehrwert mehr bieten. Eine einfache Methode ist der „Nullbasierte Ansatz“: Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihre Organisation von Grund auf neu gestalten. Was würden Sie weglassen?
2. Erstellen Sie eine „Zu-entfernen-Liste“:
Die klassische To-Do-Liste kennt jeder. Doch wie wäre es mit einer „Nicht-mehr-zu-tun-Liste“? Diese Liste enthält Prozesse, Tools oder Maßnahmen, die abgeschafft oder reduziert werden sollen. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein mittelständisches Logistikunternehmen entschied sich, alle internen Berichte zu überprüfen. Das Ergebnis: 30 % der Berichte konnten ohne Auswirkungen auf die Qualität gestrichen werden.
3. Reduzieren Sie redundante Tools:
Die Digitalisierung bringt viele Vorteile, aber auch Risiken. Zu viele Tools können Prozesse verlangsamen und Mitarbeiter überfordern. Führen Sie einen jährlichen Software-Audit durch, um die Anzahl der genutzten Plattformen zu reduzieren. Fragen Sie Ihre Teams: Welche Tools schaffen Mehrwert? Welche verursachen Reibung?
4. Fördern Sie eine Subtraktionskultur:
Subtraktionsdenken erfordert einen Kulturwandel. Mitarbeiter müssen ermutigt werden, ineffiziente Prozesse oder überflüssige Maßnahmen offen anzusprechen. Ein Beispiel ist die Einführung von „Simplicity Reviews“, bei denen Teams regelmäßig überlegen, wie ihre Abläufe vereinfacht werden können.
5. Lernen Sie von anderen:
Viele erfolgreiche Mittelständler haben Subtraktionsdenken bereits in ihre Unternehmenskultur integriert. Ein süddeutscher Automobilzulieferer reduzierte die Anzahl der internen Meetings um 40 % und führte klare Regeln für Besprechungen ein. Die Einsparung an Arbeitszeit wurde gezielt für Innovationsprojekte genutzt.
Die Umsetzung: Subtraktion in Aktion
Um Subtraktionsdenken im Unternehmen zu verankern, sind systematische Schritte notwendig. Hier ist ein praxisnaher Leitfaden:
Schritt 1: Starten Sie mit einem Pilotprojekt
Wählen Sie einen Bereich oder ein Team, in dem die Komplexität besonders hoch ist. Dies könnte die IT-Abteilung, das Projektmanagement oder der Vertrieb sein. Analysieren Sie gemeinsam mit den Mitarbeitern, welche Prozesse, Tools oder Regeln abgeschafft werden können.
Schritt 2: Setzen Sie klare Ziele
Subtraktion darf nicht wahllos geschehen. Definieren Sie klare Kriterien, z. B.: „Reduzierung der Meetingzeiten um 20 %“ oder „Vereinheitlichung der Kommunikationskanäle auf drei Tools“. Messen Sie den Erfolg anhand konkreter KPIs wie Zeitersparnis oder Mitarbeiterzufriedenheit.
Schritt 3: Kommunizieren Sie den Nutzen
Viele Mitarbeiter stehen Veränderungen skeptisch gegenüber, insbesondere wenn etablierte Prozesse infrage gestellt werden. Kommunizieren Sie klar, warum Subtraktion wichtig ist und welche Vorteile sie bringt – etwa weniger Stress, mehr Zeit für Kernaufgaben oder schnellere Entscheidungen.
Schritt 4: Integrieren Sie Subtraktion in den Alltag
Subtraktion ist keine einmalige Maßnahme, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Integrieren Sie sie in Ihre Führungskultur, z. B. durch regelmäßige „Simplification Meetings“ oder eine jährliche Überprüfung der Prozesse.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein mittelständisches Softwareunternehmen aus Nordrhein-Westfalen stand vor einem Problem: Die Einführung neuer Kommunikations- und Projektmanagementtools führte zu Verwirrung und einem Rückgang der Produktivität. Das Management beschloss, Subtraktionsdenken konsequent anzuwenden.
- Analyse der Tool-Landschaft: Alle genutzten Tools wurden bewertet. Das Ergebnis: Viele Plattformen hatten ähnliche Funktionen und wurden nur von wenigen Mitarbeitern aktiv genutzt.
- Reduktion: Von acht Tools blieben drei übrig – ein zentrales Projektmanagement-Tool, ein Chat-Dienst und ein Videokonferenzsystem.
- Vereinfachung der Prozesse: Meetings wurden auf eine klare Struktur reduziert: 30 Minuten, maximal sechs Teilnehmer, klare Agenda.
- Ergebnis: Die Produktivität stieg um 15 %, und die Mitarbeiterzufriedenheit verbesserte sich signifikant.
Subtraktionsdenken als Wettbewerbsvorteil
In einer Zeit, in der Unternehmen mit immer mehr Komplexität kämpfen, kann Subtraktionsdenken zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Für den Mittelstand, der oft auf schlanke Strukturen angewiesen ist, bietet dieser Ansatz eine Möglichkeit, sich zu fokussieren und gleichzeitig die Effizienz zu steigern.
Die Kernbotschaft lautet: Weniger ist oft mehr. Das nächste Mal, wenn Sie vor einem Problem stehen, fragen Sie sich nicht: „Was können wir hinzufügen?“ Fragen Sie stattdessen: „Was können wir weglassen?