Das Passwort im Geldbeutel – Ein Weckruf für die digitale Transformation in asset-intensiven Branchen
Ein Interview mit Yannik Musch über die Realität der digitalen Transformation in technisch geprägten Flotten- oder Anlagenbetrieben.
Wenn hochmoderne IT-Systeme auf ölige Hände treffen: Yannik Musch, Co-Founder und Digitalisierungsexperte in asset-intensiven Branchen, erklärt, warum selbst die beste Software scheitert, wenn der Mensch nicht mitgedacht wird.

Digitalisierung im Flotten- und Anlagenbetrieben: Der Mensch im Fokus
Mela Vollmer: Yannik, du bist seit knapp drei Jahren in Flotten- und Anlagebetrieben unterwegs und betreust IT- und Prozessprojekte. Was ist dein wichtigstes Prinzip bei der Digitalisierung?
Yannik Musch: Für mich steht der Mensch immer im Fokus. Zu oft werden IT-Systeme einfach über die ganze Organisation gestülpt, und dann heißt es: “Hier, arbeite damit. Du erhältst eine eineinhalbstündige Schulung – fertig.” Das macht die Investition schlichtweg kaputt. Wir investieren viel zu viel Geld dafür, dass die Software nachher nicht richtig genutzt wird. Deswegen muss man immer nah an den Nutzenden dran sein, nicht am Management.
Fehlerkultur in der digitalen Transformation
Mela Vollmer: Was regt dich an den gängigen Prozessen in deiner Branche besonders auf?
Yannik Musch: Die Trennung zwischen IT, Fachbereichen und Managementebene ist extrem ausgeprägt. Was mich wirklich stört, ist unsere Kultur der „grünen Ampeln“. In vielen Unternehmen haben wir ein System geschaffen, in dem ein Projektstatus auf ‘gelb’ oder ‘rot’ als persönliches Versagen des Verantwortlichen gilt, anstatt als normale Abweichung, auf die man reagieren muss. Der stärkste Anreiz ist also, Probleme so lange wie möglich unter der Decke zu halten, bis es zu spät ist.
Statt zu sagen “Okay, wir haben daraus gelernt”, wird nach Verantwortlichen und Schuldigen gesucht. Das vergrault genau die Personen, die etwas vorantreiben wollten und vielleicht an wenigen Stellen gescheitert sind, aber an vielen Stellen Fortschritt gebracht haben.
Mela Vollmer: Welche Konsequenzen hat diese fehlende Fehlerkultur?
Yannik Musch: Es entsteht eine Toxizität in der Organisation. Menschen werden unzufrieden und wenden sich gegen neue Projekte, gegen die Transformation. Als Führungskraft muss man verstehen: Gerade die Leute, die sich am Anfang reingehängt haben, brauchen besondere Unterstützung. Wenn man sie im Stich lässt, verliert man nicht nur engagierte Mitarbeitende. Ihre Frustration überträgt sich auch auf andere.
Als Führungskraft muss man verstehen: Die Transformation stirbt nicht in einem großen Knall. Sie stirbt leise, weil sich niemand mehr traut, schlechte Nachrichten zu überbringen. So werden aus kleinen, lösbaren Problemen unkontrollierbare Risiken für das ganze Unternehmen.
Systemintegration und Asset Management: Die Silo-Problematik
Mela Vollmer: Lass uns über Systemintegration sprechen. Wo siehst du die größten Herausforderungen?
Yannik Musch: Wir sind wieder bei den Silos, bei den unterschiedlichen Bereichen, die nicht miteinander sprechen. In Flotten- und Anlagebetrieben haben wir beispielsweise sehr teure Assets mit einem Lebenszyklus von 30+ Jahren. Aber wir haben keine Stelle in der Organisation, die für die Daten des Assets über die gesamte Lebensdauer verantwortlich ist, von Betrieb über Instandhaltung bis zum Ausphasen. Dadurch entstehen Brüche in der Prozess- und Systemlandschaft, die wir uns in der heutigen Zeit der Daten nicht leisten können.
Nutzerzentrierte IT-Systeme: Von der Theorie zur Praxis
Mela Vollmer: Was bedeutet “nutzerzentriert” konkret in der Praxis und wie sollten Entscheider:innen das angehen?
Yannik Musch: Entscheider:innen müssen ihre Teams dahin bringen, wo die Arbeit tatsächlich passiert. Wir erleben oft, dass Leute Systeme konzipieren, die das Werk kein einziges Mal von innen gesehen haben. Als Führungskraft sollte man sicherstellen, dass die Projektteams frühzeitig mit den späteren Nutzer:innen zusammenarbeiten. Einen Tag mitzulaufen, macht einen riesigen Unterschied.
Da merkt man plötzlich: Wir wollten ein Textfeld einbauen, in das jemand einen Langtext einträgt. Funktioniert aber nicht, wenn die Person Öl an den Händen hat! Das sind Kleinigkeiten, die einem nur auffallen, wenn man direkt am Arbeitsplatz ist, nicht im Meetingraum.
Best Practice: Kleine Details, große Wirkung
Mela Vollmer: Hast du ein konkretes Beispiel, wie Führungskräfte kleine Details mit großer Wirkung adressieren können?
Yannik Musch: Ja, das Passwort-Problem. Wir stellen immer wieder fest, dass schon Kleinigkeiten wie ein Passwort den Unterschied machen. Man muss sich in die Lage der Mitarbeitenden versetzen. Sie bedienen nicht hauptsächlich das Tablet/den Laptop so wie wir. Da werden gerne mal Passwörter auf einem Zettel im Geldbeutel aufbewahrt werden.
Als Führungskraft oder Projektverantwortlicher sollte man solche Dinge ernst nehmen, nicht als “Nutzer sind halt digital abgehängt” abtun. Wenn man den Leuten zeigt, wie sie ihr Passwort sicher und regelkonform speichern können, ohne es ständig eintippen zu müssen, schafft man mit einer vermeintlichen Kleinigkeit einen „Fan“ und auch noch eine Menge Zeit. Die Suche nach dem Passwort oder die Vergabe eines neuen kann 20-30 Minuten kosten.
Wir hatten sogar einen Instandhalter, der sagte: “Ich habe daheim kein Internet, keinen Laptop, keinen PC. Das ist nicht mein Leben.” Als Entscheider:in muss man diese Realität akzeptieren und sich den Bedürfnissen entsprechend anpassen, nicht erwarten, dass alle so digital-affin sind wie man selbst.
Datenerfassung in asset-intensiven Branchen optimieren
Mela Vollmer: Wie sollten Entscheider:innen mit dem Thema Datenerfassung umgehen?
Yannik Musch: Sie sollten zuerst verstehen, unter welchen Bedingungen die Daten erfasst werden. Nehmen wir die mobile Instandhaltung: Jemand fährt zu einem Asset in Gegenden, von denen wir noch nie gehört haben…mitten in einem Funkloch. Wenn die Software nur auf Online-Betrieb ausgerichtet ist, können keine Daten eingetragen werden.
Die Person schreibt sich alles händisch auf einen Zettel. Zurück im Büro soll das Ganze nochmal eingetippt werden. Das frustriert, verständlicherweise. Als Entscheider:in muss man solche Rahmenbedingungen kennen und auf auch scheinbar banale Anforderungen reagieren.
Automatisierung priorisieren: Was sollte digitalisiert werden?
Mela Vollmer: Wie können Entscheider:innen priorisieren, was automatisiert werden sollte?
Yannik Musch: Eine Kostenbetrachtung hilft, aber nicht nur aus finanzieller Sicht. Die Frage sollte sein: Wo lohnt es sich, Daten automatisch zu erfassen, und wo empfinden die Mitarbeitenden manuelle Erfassung als sinnvoll?
Fahrkilometer oder Betriebsstunden sind relativ einfach mit Sensoren zu erfassen. Die Mitarbeitenden denken sich sowieso: “Das macht mein Auto doch auch schon digital, warum ist das bei unseren Assets so ein Problem?” Hier sollte man automatisieren.
Aber Bilder von Defekten aufnehmen, um später eine KI anzulernen? Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch zu teuer für vollautomatische individuelle Lösungen. Standardlösungen bieten hier oft die bessere Lösung, aber auch hier ist nicht die Technik entscheidend. Es ist die Einführung der Technik bei den Menschen. Die Faustregel für Entscheider:innen: Wenn Menschen merken, dass etwas leicht automatisierbar wäre, weil es im Alltag schon funktioniert, entsteht Frustration. Dann sollte man es automatisieren.
Predictive Maintenance in Unternehmen mit hohem Infrastrukturanteil: Hype vs. Realität
Mela Vollmer: Welche aktuellen Trends sollten Entscheider:innen kritisch hinterfragen?
Yannik Musch: Digitalisierung wird oft als heiliger Gral verkauft. Sie macht Firmen besser, aber sie ist nicht die alleinige Lösung. Entscheider:innen müssen verstehen: Es geht um die ganze Organisation, also Prozesse, Menschen, Strategie.
Und Predictive Maintenance: Ein wertvolles Werkzeug, aber kein Allheilmittel. Viele vergessen die Voraussetzungen. Das Problem ist meist nicht die Technik, sondern die Flexibilität der Organisation.
Was nützt mir die perfekte KI-Vorhersage, dass ein Bauteil in drei Tagen ausfällt, wenn meine Werkstattplanung so starr ist, dass ich kurzfristig gar keinen Slot bekomme? Oder wenn die Regularien vorschreiben, dass wir stur nach Fristen instandhalten, egal was der Sensor sagt?
In der Produktion oder der Verkehrsbranche scheitert Predictive Maintenance selten am Algorithmus, sondern an der operativen Realität. Solange wir unsere Prozesse nicht flexibilisieren, produzieren wir mit teurer Technik nur Wissen, das wir nicht nutzen können. Das ist dann kein Business Case, sondern Geldverbrennung.
Leadership in der digitalen Transformation
Mela Vollmer: Was ist dein wichtigster Rat für Führungskräfte in Asset-Intensiven Branchen?
Yannik Musch: Leadership bedeutet vor allem, Menschen zu befähigen. Nicht diese Strenge an den Tag legen, durch die keine Fehler mehr zugelassen werden. Sondern aktiv dabei unterstützen, die Mitarbeitenden in ihren Aufgaben besser zu machen, auch wenn sie an dem Punkt vielleicht noch nicht sind.
Und Führungskräfte brauchen den Mut, auch unbequeme Entscheidungen transparent zu vertreten. Für die Mitarbeitenden einzustehen, für Projekte einzustehen und auch mal zum obersten Management zu sagen: “Nein, das machen wir anders” oder “Wir haben das Projekt gestoppt und hier ist, was wir daraus gelernt haben.”
Es geht darum, eine Kultur zu schaffen, in der man offen miteinander spricht, in der Mitarbeitende nicht befürchten müssen, für ehrliches Feedback oder gescheiterte Versuche abgestraft zu werden. Management muss akzeptieren, dass Transformation Experimente bedeutet, schnelles Lernen… und ja, gelegentlich Umwege.
Everblue Consultants: Menschenzentrierte Digitalisierungsberatung
Mela Vollmer: Was zeichnet eure (Everblue Consultants) Herangehensweise aus?
Yannik Musch: Wir bringen eine sehr menschliche Seite mit. Wir schauen nicht nur von der IT-Seite, sondern haben auch einen Business-Background und verstehen die Menschen in der Organisation.
Unser Ansatz ist es nicht, Lösungen um jeden Preis gegen Widerstände durchzusetzen. Widerstände gibt es immer. Diese gilt es abzuwägen und wenn wir merken, dass etwas nicht angenommen wird, suchen wir nach den Gründen und passen an. Wir finden einen Weg zwischen “Menschen mitnehmen” und “notwendige Veränderungen vorantreiben”.
Wir können Menschen gut überzeugen, mitnehmen und befähigen – das, was Leadership eigentlich leisten sollte. Wenn wir das mit technischer und Business-Expertise verbinden, entsteht echte Wirkung: Digitalisierung, die nicht nur implementiert, sondern auch gelebt wird.
Fazit: Erfolgreiche Digitalisierung braucht menschenzentrierte Ansätze
Die digitale Transformation in asset-intensiven Branchen scheitert nicht an der Technologie, sondern an fehlender Nutzerzentriertheit. Führungskräfte müssen eine Fehlerkultur etablieren, Silos aufbrechen und ihre Teams direkt an den Arbeitsplatz bringen. Nur so entstehen IT-Systeme, die tatsächlich genutzt werden und die Investition rechtfertigen.
Über den Experten: Yannik Musch ist Co-Founder bei Everblue Consulting und seit mehreren Jahren im Bereich Digitalisierung und Prozessoptimierung für asset-intensive Branchen im Bereich Produktion und Flotten- und Anlagenbetrieben tätig. Ein weitere Projekt, dass Yannik betreut hat finden sich hier.