Digitalisierung im Gesundheitswesen: Zwischen gesetzlichem Druck und echtem Mehrwert 

Erfahre, wie Kliniken durch smarte Systeme, Kulturwandel und Prozessoptimierung Effizienz steigern und Fachkräfte entlasten.

Digitalisierung im Gesundheitswesen: Ein Gespräch mit Anna Kunz über die Herausforderungen und Chancen der digitalen Transformation in Kliniken und Gesundheitseinrichtungen 

Mela Vollmer: Wenn du an Digitalisierung im Gesundheitswesen denkst: Was bedeutet das für dich in der Praxis? Es sollte ja mehr sein als nur eine Software. 

Anna Kunz: Absolut. Vor allem das Thema Bürokratie ist im Gesundheitswesen riesig. Es gibt Studien dazu, wie viel Prozent der Tageszeit jemand in der Pflege oder als Arzt mit Dokumentation verbringt. Im ärztlichen Dienst sind es bspw. 4h am Tag, bei Chefärzten oder -ärztinnen sogar 5,5h am Tag [1]. Digitalisierung sollte mehr Zeit für die tatsächliche Arbeit am Patienten schaffen, für das, was die Leute eigentlich machen wollen. 

Aber es geht auch um die administrative Seite. Wenn beispielsweise die Personalabteilung eines Krankenhauses digitaler unterwegs ist, wird mehr Zeit frei für wertschöpfende Tätigkeiten. Dann kann man schauen, wie man die Mitarbeitenden besser unterstützen kann. Und das ist gerade in der Versorgung viel wert.  

Die Digitalisierungslage ist noch viel herausfordernder ist, als ich am Anfang dachte.

Mela Vollmer: Was war für dich der größte Aha-Moment in der Zeit, in der du dich mit dem Thema Digitalisierung Gesundheitswesen auseinandergesetzt hast? 

Anna Kunz: Umso mehr ich mich damit beschäftigt habe, umso mehr habe ich gesehen, dass die Digitalisierungslage noch viel herausfordernder ist, als ich am Anfang dachte. Viele Einrichtungen im Gesundheitswesen haben keine Systeme, die sie unterstützen, wo sie es benötigen, sondern welche die zusätzliche operative Hürden erzeugen. Die langfristige Arbeit unter solchen Bedingungen stelle ich mir belastend vor. 

Eigentlich sollte Software dich bei deiner Arbeit unterstützen. Aber wenn diese Software nur Probleme macht, entsteht ein deutlicher Effizienzverlust und Frustration. 

Mela Vollmer: Du hast erwähnt, dass der Wunsch nach Veränderung in deinem aktuellen Projekt aus der Abteilung selbst kam. Wie wichtig ist das? 

Anna Kunz: Es hilft ungemein. Normalerweise sagt man, das Management muss es von oben tragen: idealerweise tragen es beide Seiten. Aber wenn der Wunsch nach einem neuen System da ist, wenn die Mitarbeitenden den Mehrwert sehen, dann haben sie auch Lust darauf – auch wenn temporär eine erhöhte Arbeitsbelastung entsteht. 

Die Fachabteilungen machen in der Regel die eigentliche Arbeit im Projekt, weil deren Input gefragt ist. Das Fachwissen und das Unternehmenswissen liegen in ihren Köpfen. Wenn die Mitarbeitenden von Anfang an den Sinn darin erkennen, benötigt es nicht so viel Überzeugungsarbeit. So spricht man direkt darüber: Wie bekommen wir das jetzt hin? 

Mela Vollmer: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Digitalisierung organisatorisch funktioniert? 

Anna Kunz: Das ist eine gute Frage. Meistens beschäftigt man sich nur mit den technischen Herausforderungen – allerdings sind diese im Vergleich leichter erfüllt. Die Kultur ist tatsächlich sehr entscheidend. Arbeiten die Abteilungen übergreifend zusammen? Sind die Personen bereit, auch eine Zeit lang mit vorläufigen, noch unvollständigen Lösungen zu arbeiten? 

Von heute auf morgen ist ein System nicht 100% perfekt. Man sollte sich die Prozesse anschauen und erst optimieren, bevor man sie ins neue Tool einpflegt. Das führt oft zu Diskussionen: Wie wollen wir das zukünftig machen? Da braucht es die Bereitschaft, den Status quo loszulassen. Ja, wir haben die letzten 15 Jahre so gearbeitet, aber wenn wir jetzt die Chance haben, das Thema neu zu denken, sind wir dann bereit, uns darauf einzulassen? 

Die Personen sagen nicht direkt “Ich habe Angst”, aber du merkst Widerstand oder Einwände.

Mela Vollmer: Das klingt besonders schwierig für langjährige Mitarbeitende … 

Anna Kunz: Genau. Überleg mal: Du arbeitest irgendwo 20 Jahre, bist Expertin auf deinem Gebiet. Und wir passen jetzt plötzlich die Prozesse an, haben ein neues System. Du startest quasi von null. Ihre bisherige Expertise lässt sich nicht unmittelbar in das neue System übertragen. Das ist schon ein erheblicher Einschnitt für Mitarbeitende. 

Mela Vollmer: Wie holt man diese Menschen ab? 

Anna Kunz: Das Wichtigste ist, das erst mal zu respektieren. Dass Leute vielleicht Ängste oder Sorgen vor Veränderung haben. Das ist oft unterschwellig. Die Personen sagen nicht direkt “Ich habe Angst”, aber du merkst Widerstand oder Einwände. 

Die Person wirklich aktiv einzubinden, ist entscheidend. Was sind ihre Bedenken? Warum haben sie diese Bedenken? Wie würden sie es machen? Wenn ich es schaffe, jemanden, der eher Projektgegner ist, an Bord zu holen, kann die Person im weiteren Verlauf eine deutlich konstruktivere Haltung einnehmen als jemand, der dem Projekt neutral gegenübersteht. 

Und oft schlummern da auch Schätze, also fachliches Wissen, das die Person sich in 20 Jahren angeeignet hat. Dieses “Deine Sorgen werden gehört, wir nehmen sie ernst, wir gucken, dass wir eine Lösung finden”. Das ist das Wichtigste. 

Bis 2049 fehlen 690.000 Fachkräfte in der Branche.

Mela Vollmer: Mit welchen konkreten Herausforderungen haben Gesundheitseinrichtungen aktuell zu kämpfen? 

Anna Kunz: Es gibt ein massives Digitalisierungsloch, besonders bei Reha- und Vorsorgekliniken, weil einfach wenig investiert wurde. Gleichzeitig gibt es enormen regulatorischen Druck und einige neue Gesetze, die Handlungen erfordern. Dann kommt natürlich der Fachkräftemangel hinzu, der durch den demografischen Wandel verschärft wird. Bis 2049 fehlen 690.000 Fachkräfte in der Branche. Überforderung und zu viele Verantwortlichkeiten sind Haupttreiber für Burnouts, die überdurchschnittlich oft vorkommen. 

Und dann der Kostendruck: Durch gesetzliche Änderungen werden viele Investitionen parallel notwendig. Bei Reha- und Vorsorgeeinrichtungen fehlen oft Förderungen. Bedauerlicherweise werden diese in Förderprogrammen nicht durchgängig berücksichtigt. 

Mela Vollmer: Du hast mehrere Gesetze erwähnt… kannst du das konkretisieren? 

Anna Kunz: Da gibt es das KHZG, das KraTraG, die Krankenhausreform, die elektronische Patientenakte und das KHVVG. Diese Regulatorien passieren alle gleichzeitig. Diese Gesetzesflut erzeugt einen sehr hohen Anpassungs- und Dokumentationsaufwand. 

Das KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz) hat zum Beispiel neun Pflichtmodule wie Patientenportal oder digitales Medikationsmanagement. Die müssen bis Ende 2025 live gehen. Ich muss gucken: Kann ich das inhouse umsetzen? Wahrscheinlich nicht. Also brauche ich externe Hilfe, muss Vergabevorlagen erstellen, Lastenheft, Pflichtenheft. Wer macht das Projektmanagement? Wer begleitet den Change? Dieser Aufwand entsteht allein für eines dieser Gesetzespakete. 

Mela Vollmer: Seit dem 15. Januar 2025 gilt die automatische Anlage der elektronischen Patientenakte…  

Anna Kunz: Genau, und der Ärztetag kritisiert, dass das Tool nicht gut handelbar ist. Keine Volltextsuche, kein Virenscanner. Das erfordert Zusatzlösungen. Wie integriere ich das in meine bestehende Systemlandschaft? Das passiert extrem viel, was parallel stattfindet. 

Gemeinsam als Netzwerk kann man die Probleme leichter stemmen. Redundante Fehler lassen sich vermeiden, wenn Erfahrungen geteilt werden.

Mela Vollmer: Wie sollen Einrichtungen das überhaupt stemmen? 

Anna Kunz: Das ist eine gute Frage. Zu wenig Geld, zu wenig Ressourcen, aber es muss halt sein. 

Vernetzung ist hilfreich. Mit Krankenhäusern und Einrichtungen sprechen, die vielleicht schon einen Schritt weiter sind. Sich mit anderen zusammentun, die vor den gleichen Herausforderungen stehen. Gemeinsam als Netzwerk kann man die Probleme leichter stemmen. Redundante Fehler lassen sich vermeiden, wenn Erfahrungen geteilt werden. 

Dann muss ich rechtzeitig gucken: Welche Kompetenzen, welche Ressourcen habe ich intern? Wie ist meine IT-Abteilung aufgestellt? Kann ich jemanden freistellen? Wenn nicht, muss ich mir wahrscheinlich Hilfe von außen holen. 

Mela Vollmer: Denkst du denn, dass andere Einrichtungen, die ja auch irgendwie im Wettbewerb stehen, sind so hilfsbereit? 

Anna Kunz: Ja, absolut. Es gibt oft diese Annahme eines starken Wettbewerbsdenkens, aber Menschen sind im Grunde gut und wollen helfen. Ich kann meinen Mitstreitern helfen, ohne mich selbst schlechter zu stellen. Wenn man da seine Ressourcen und Kraft bündelt, macht das in dem Fall auf jeden Fall Sinn und beide gehen als Gewinner raus. 

Mela Vollmer: Zum Abschluss: Was macht für dich eine gelungene Digitalisierung aus? 

Anna Kunz: Das Positive an den ganzen Gesetzen ist: Wenn man das gut und sauber umsetzt, ist die Hoffnung da, dass Dinge danach besser laufen als vorher. Dass ich im Arbeitsalltag merke, dass das, einen tatsächlichen Nutzen erzeugt. 

Wichtig ist ein iteratives Vorgehen. Wir setzen ein Teil um, testen, lernen davon, bauen an. Nicht von null auf hundert so einen komplexen Gesamtumfang auf einmal umsetzen. Je mehr Learnings ich bei meinen kleinen Schritten mitnehmen kann, umso schneller gehen die Themen danach. 

Und ganz wichtig: In diesem stressigen Alltag auch mal innehalten und sich dafür feiern, was man schon geschafft hat. Projektteams neigen dazu, ein To Do nach dem anderen abzuhaken und weiterzumachen. Aber man muss auch mal zurückblicken und sagen: “Hey cool, wir haben das jetzt geschafft. Das funktioniert mega gut.” Und das dann auch ins ganze Unternehmen kommunizieren. 

Es kann schnell passieren, dass Projekte negativ gesehen werden – “Oh, jetzt haben wir schon wieder ein neues Projekt und ich muss Überstunden machen.” Aber man muss auch über das Positive sprechen und an jeder Ecke schauen: Wo kann ich den maximalen Mehrwert für meine Belegschaft rausziehen? Diese Wins muss man mitnehmen. 

Anna unterstützt die Verwaltung von Gesundheitseinrichtungen bei der digitalen Transformation mit Fokus auf Systemauswahl & -einführungen, Gestaltung von Betriebsmodellen (TOM) sowie Projekt- und Kommunikationsmanagement. 

Quellen:

[1] Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/archiv/krankenhausaerzte-vier-stunden-pro-tag-fuer-dokumentation-a1f0dee0-530b-4d81-9b65-c2ea69b5fd9f

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